Strompreisschock: Preistreiber ist das Energiehandels-System
Die Ursache für die im Moment astronomisch hohen Energiepreise liegt nur zum Teil in teuren Öl-, Kohle- und Erdgasimporten. Zusätzlicher und entscheidender Preistreiber ist eine groteske Preisfindungsmethodik an unseren Energiebörsen: Hier besteht Handlungsbedarf:
Sebastian Igel, Fachanwalt für Energierecht, Vorstand der Energie-Admin AG in Hannover und Leiter des Forums Klinikenergie bei der Fachvereinigung Krankenhaustechnik e.V. (FKT) fordert ein Aussetzen der börslichen Energiepreisbildung. Die sogenannte Einheitspreisauktion beschere vielen Kraftwerksbetreibern im Stromsektor aktuell einen maximalen Ertrag – den meisten sogar Gewinnsteigerungen von rund 1000 Prozent gegenüber dem Vorjahr. „Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung ist die Einheitspreisauktion ein offensichtlich absurdes System“, pflichtet Wirtschaftsingenieur und Aufsichtsratsvorsitzender der Energie-Admin AG, Wilhelm Stock seinem Kollegen bei. Er fordert: Die Bundesregierung müsse hier schnell handeln und die bestehende Energiepreisbildung aussetzen. Gewinnmargen dieser Größenordnung seien vollkommen unverhältnismäßig und richteten enormen volkswirtschaftlichen Schaden an, die deutschen Verbraucher könnten so um mehrere Milliarden Euro monatlich entlastet werden.
Absurder Preisfindungsmechanismus
Bei der Einheitspreisauktion legt die teuerste zur Bedarfsdeckung noch benötigte Kilowattstunde den Endpreis für alle Anbieter fest. Auch wenn die Verkaufsgebote der übrigen Anbieter günstiger waren, erhalten alle den Preis der teuersten Kilowattstunde, den sogenannten Einheitspreis. Auf das Gesundheitswesen übertragen, würde ein solches Preisfindungsmodell dazu führen, dass der teuerste Anbieter einer Blinddarm-OP den Preis für bundesweit alle anderen Kliniken vorgibt.
Aktuell geben Gaskraftwerke den höchsten Strompreis vor. Gaskraftwerke sind sehr flexibel einsetzbar und dienen dazu, Lastspitzen in der Energieversorgung auszugleichen. Damit erfüllen sie eine wichtige Aufgabe, ihr Anteil an der Gesamtstromerzeugung ist aber eher gering. Laut statistischem Bundesamt decken Gaskraftwerke weniger als zehn Prozent des Gesamtstrombedarfs. Dennoch sind sie zu 90 Prozent für die aktuelle Preissteigerung verantwortlich. Die Folge: Für das kommende Quartal kostet der Strom an der deutschen Terminbörse aktuell mehr als 40 ct/kWh gegenüber 4 ct/kWh vor einem Jahr – eine
Preissteigerung um das Zehnfache.
Dass primär die Preisfindung über Einheitspreisauktionen als Preistreiber wirkt, verdeutliche ein Blick auf die Entwicklung der Rohstoffpreise: „Auch Braun- und Steinkohle haben sich deutlich verteuert, aber die Gas- und Strompreise sind explodiert“, erklär Sebastian Igel. „Zur Deckung des Gasbedarfs müssen aktuell zusätzliche Mengen zu historisch hohen Preisen aus dem Ausland beschafft werden. Der Preis dieser Mengen infiziert über den beschriebenen Börsenmechanismus alle Gasmengen mit einem volkswirtschaftlich unnötig hohen Preis. Weil die Gaskraftwerkbetreiber auf dieses im Grunde überteuerte Gas zurückgreifen, ist deren Strom extrem teuer. Dieser hohe Strompreis infiziert dann seinerseits den börslichen Strompreis, der dann wieder für alle Mengen Gültigkeit hat. „Der Einheitspreis-Effekt potenziert sich somit und treibt die aktuellen und zukünftigen Energierechnungen für Strom und Gas aller industrieller, betrieblicher und privater Verbraucher in nie gekannte Höhen“, führt Stock weiter aus. „Das Geld wird dabei nur zu einem kleinen Teil für zusätzliche Energiebeschaffungen aus dem Ausland eingesetzt, zumal große Teile des deutschen Brennstoffbedarfs über langfristige und preisstabile Kontrakte gedeckt sind. Der Großteil der Kosten bleibt im System Energiebörse hängen.“
Das Marktdesign schnell reformieren
Spätestens mit Ausbruch des Ukraine-Krieges bestehe eine elementare Ausnahmesituation, die ein Eingreifen des Staates verlange, fordern die Energieexperten aus Hannover. „Der Gaspreis hat sich vom Energiemarkt vollkommen entkoppelt und die Schwächen der Börsenpreisfindung gnadenlos offengelegt – das Marktdesign muss sofort ausgesetzt und mittelfristig reformiert werden.“ So könne man sich beispielsweise im Strombereich am sogenannten Pool-Modell orientieren, bei dem die Erzeugungseinheiten zentral gesteuert werden und eine Art Mischpreis ausgelobt wird. Länder wie Kanada, Australien, Neuseeland oder Teile der USA praktizieren diese Form der Preisfindung bereits. In der jetzigen Notlage sei jedoch ein kurzfristiges und beherztes Eingreifen in den Energiemarkt seitens der Bundesregierung notwendig. „Wenn das bestehende System für einen begrenzten Zeitraum von vielleicht zwei Jahren ausgesetzt wird, ist eine schnelle Entlastung aller Strom- und Gasverbraucher möglich“, erklärt Sebastian Igel und stellt folgende Handlungsvorschläge zur Diskussion:
- Betreiber von AKW, EE-Anlagen (in der Direktvermarktung) und Pumpspeicherwerken erhalten den Durchschnittpreis, den sie für ihren Strom in der ersten Jahreshälfte 2021 erhalten haben.
- Für Betreiber von Gas-, Stein- und Braunkohlekraftwerken gilt das Vorgenannte zuzüglich eines Preisausgleichs für gestiegene Brennstoffpreise.
- Die in Deutschland ansässigen Stromerzeuger werden verpflichtet, Strommengen wie bisher zu erzeugen und auf Basis dieser Preise abzugeben. Ein Verkauf ins Ausland ist untersagt.
- Der Markteingriff gilt zunächst bis Ende 2023.
Die Energieexperten seien sich bewusst, dass ein so weitreichender Eingriff des Staates in den Energiemarkt eine Zäsur darstellt, die mit diversen rechtlichen Hürden verbunden wäre. Auch sei ihr Vorschlag sicherlich nicht der Weisheit letzter Schluss, man wolle vorrangig auf den Systemfehler hinweisen und eine breite Debatte anstoßen. „Aber jetzt ist nicht der Augenblick für lange Diskussionen“, mahnt Energierechtler Igel. „Trotz möglicher Schadenersatzklagen muss die Bundesregierung schnell handeln.“
Energie eignet sich nicht für die Börse
Im Zuge der europäischen Liberalisierung der leitungsgebundenen Energiemärkte wurden Anfang der Jahrtausendwende die Energiebörsen ins Leben gerufen, die sich mittlerweile in Europa etabliert haben. Wilhelm Stock fragt: „Was in aller Welt hat Vorreiter Deutschland da geritten?“ Eine Börse eigne sich für Märkte, bei denen Angebot und Nachfrage elastisch sei – also die Nachfrage nachgibt, wenn der Preis steigt. Dies sei zum Beispiel bei Aktien der Fall, die man in sein Portfolio aufnehme – oder eben nicht. Oder bei Schweinefleisch, bei dem ein höherer Preis die Nachfrage sinken lasse, weil Verbraucher dann zu anderen Fleischarten wechseln, oder auf den Konsum von Fleisch ganz verzichten. Aber Strom und Erdgas an einer Börse handeln? „Die elementaren Wirkprinzipien von Angebot und Nachfrage sind aufgrund der fehlenden Nachfrageelastizität gar nicht gegeben“, bemerkt Stock. Kaum jemand könne seinen Strom- und Gasbedarf spontan reduzieren oder substituieren, schon gar nicht die Wirtschaft. „Die Energiebörse ist wie ein Trojaner, den wir uns von den Energieanbietern/-Erzeugern seinerzeit haben einpflanzen lassen“, so Stock. „Eine Reform ist dringend nötig.“ Mit Gegenwind der Profiteure müsse man rechnen – Anteilseigner der Strombörse seien schließlich die Stromproduzenten und Anbieter selbst. Dass sich an den Marktplätzen zudem auch zahlreiche Banken tummeln, untermauere nur die Goldgräberstimmung im System Energiebörse.
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Ingo Schmidt, Maria Thalmayr